Abenteuer auf dem Kirchboden

Theodor Weißenborn

Die hellen Sonntage voll Andacht, Ruhe und Zeit!

Am Morgen das Dorf mit Dächern und Gärten im Sonnenglanz, freundlicher Zuruf von Base Kathrin über die Straße her, meine Brüder und ich in sauber gebürsteten schwarzen Anzügen mit frisch gewaschenen weißen Krägelchen auf dem Weg zur Kirche, die Sandgasse hinauf – da steht sie, die Kirche, blitzend und weiß, blendend mit allen Mauern, vor dem schwarzgrünen Band des Waldes, unter dem strahlenden, tiefblauen Himmel.

Hinter dem Turm tritt aus dem Kirchdach ein kleiner Erker hervor; mit spitzem Giebel und hölzerner Tür. – Wohin mag sie führen, die Tür? Wie kann man zu ihr gelangen? Selbst von der nächstgelegenen Turmluke aus ist sie ohne Leiter nicht zu erreichen. Sie hat auch kein Schloss, offenbar ist sie vernagelt. Aus ihrer Höhe herab sieht sie mich grau und geheimnisvoll an, eigentümlich fern und vergessen, seit Jahren mag niemand durch sie hindurchgegangen sein. Seltsame, aufregende Gedanken bewegen mich...

Am nächsten Tag nach dem Mittagessen gehe ich ungesehen in den Geräteschuppen, stehe inmitten der staubdurchflimmerten Lichtbänder – es riecht nach Öl und Wagenschmiere – und lausche nach draußen: Die Mutter ist in der Küche beschäftigt, von Konrad und Franz, meinen Brüdern, ist nichts zu hören. – Nun rasch! Da ist der Werkzeugkasten meines Vaters. Eine Zange und ein Meißel verschwinden in meinen Hosentaschen. Barfuß – so hört mich niemand – laufe ich über den Hof, zum Tor hinaus auf die Straße, schleiche gebückt unter unserm Küchenfenster hinweg und laufe zum Anger. Unter meinen Füßen hebt sich der Staub der Straße zu kleinen Wolken auf, von irgendwoher – seltsam laut in der Mittagsstille – schallt das Klappern einer Kanne, überall in den Häusern und Höfen herrscht Ruhe, Ruhe von der Arbeit. – Da! Bei Schusterbernhard steht das Tor offen! Der Hof ist leer, kein Mensch zu sehen, aus dem offenen Fenster der Wohnstube schallt Löffelgeklapper und Schlürfen – sie sitzen beim Essen. Und da, vor dem Hühnerstall, auf dem Hof – eine Leiter! Nicht zu lang, nicht zu schwer, ich werde sie tragen können. Glühend heiß das Pflaster unter meinen Füßen, geduckt unter dem Fenster hinweg, um die Schuppenecke – der Hund! Blinzelt mich an, den Kopf auf die Pfoten gelegt, wedelt, kennt mich. Die Leiter drückt auf der Schulter, meine Fußsohlen brennen auf den von der Sonne durchglühten Steinen, nun denselben Weg zurück! Jetzt sprechen sie drinnen das Tischgebet – da ist schon die Straße! Und im Laufschritt, die Leiter auf dem Rücken, die menschenleere Gasse hinauf, zur Kirche.

Niemand begegnet mir. Ungesehen komme ich über den Kirchhof, in die Kirche hinein, nun bin ich im Turm. Plötzliche Kühle, ruhige, ein wenig feuchte Luft, lautlose Stille. Ich lehne die Leiter an die Wand und wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Horch, wie mein Herz klopft! Nun mit der Leiter die Wendeltreppe hinauf! Alle zwanzig Stufen komme ich an einem Fensterchen vorbei. Jetzt bin ich so hoch wie das Haus des Kleinen Raaben, jetzt so hoch wie das Pfarrhaus, jetzt bin ich schon über den Wipfeln der Linden, der Grabstein von Pfarrer von Aaken ist ein winziges Klötzchen, die Sandgasse ein schmales weißes Band. Da ist der Boden unter dem Glockenstuhl, höher hinauf geht es nicht. Die Treppe ist zu Ende, über mir nur schwarzes, verstaubtes Gebälk, darin gähnen die schwarzgrünen Glockenschlünde, reglos hängen die Seile durch Löcher im Boden hinab in die Tiefe. Nun habe ich die Luke gefunden, die dem grauen Türchen im Kirchdach gegenüberliegt. Ich blicke hinaus, die Entfernung ist kleiner, als ich gedacht habe. Ich schiebe die Leiter durch die Luke, weiter, noch weiter, so, bis sie auf dem Kirchdach genau unter der Tür fest auf den Ziegeln liegt. Ich klettere hinterher und krieche auf der Leiter wie auf einer Brücke hinüber zu dem kleinen Erker. Vor der Tür setze ich mich auf eine Sprosse und blicke umher. Ein sanfter Lufthauch umweht mich, die Dachpfannen glühen in dem grellen Sonnenlicht, stoße ich mit einer Zehe dagegen, so spüre ich, wie heiß sie sind. Über mir am Turmgiebel flattern erschrocken die Vögel umher. Als ich die Leiter angesetzt habe, sind sie aufgescheucht worden. Unter mir, da, wo meine Füße baumeln, läuft die Rinne des Kirchdachs dahin. Strohhalme und Federchen liegen darin, wohl von den Vögeln gebracht. Hier und da wächst aus einer Mauerritze ein Pflänzchen. Blicke ich tiefer, über die Häuser hin, so kann ich bei Wolfs August in den Hof sehen. Zamperlene steht am Brunnen und wäscht die Milchkannen aus. Unten auf der Sandgasse fährt jetzt Franz Hesses Vater vorbei; er hat den Schimmel angespannt, der Franz in den Arm gebissen hat. Jetzt fährt er am Vorwerk um die Ecke, das Kirchdach schiebt sich dazwischen, gleich, an der Tränke, wird er wieder zum Vorschein kommen. Zamperlene ist jetzt fertig mit den Milchkannen und geht ins Haus. Bei Joseph Stolze wird gewebt. Das Klappern schallt über die Dächer her, ich kann es genau hören: Die weben an zwei Stühlen. Überall liegt das Sonnenlicht auf den Dächern, in den Höfen und in den Gärten und weiter fort auf den Feldern, der Himmel ist klar wie Glas und schimmert in der Ferne, wo die Ohmberge sind, in zarten graublauen Farben. Es gefällt mir hier oben. Ich kann alles beobachten und werde doch selbst nicht gesehen, die Leute auf der Straße sind winzig klein – wenn sie wüssten, dass ich hier oben bin, sie brauchten nur einmal den Kopf zu heben, so sähen sie mich. Aber sie denken nicht daran! Die haben ganz andere Sachen im Kopf.

Mit einemmal kommt ein Windstoß und weht mir aus der Dachrinne Sandkörner ins Gesicht. Ich will mich doch beeilen, die Tür zu öffnen. Ich schiebe den Meißel unter die Bretter, hebe und drücke, lockere sie, ziehe mit der Zange die Kagel aus dem Holz, schließlich, da sie auf einer Seite in Angeln hängt, lässt die Tür sich öffnen. Kreischend schwingt sie herum, und schon stehe ich auf dem Kirchboden, in dem hohen Speicherraum über dem Gewölbe des Kirchenschiffs. Hier ist es warm und still. Der Lärm der Vögel draußen ist leiser geworden, Sonnenstrahlen fallen durch die Ritzen zwischen den Dachpfannen herein, ein dumpfiger Geruch nach Moder steht in dem langen Raum, im Dämmerlicht in den Winkeln liegen uralte, vom Holzwurm zernagte Heiligenfiguren, fast unkenntlich vor Staub und Spinnweben. Auf dem First höre ich die Tauben gurren, ab und zu flattert eine von ihnen auf und setzt sich nach ein paar Flügelschlägen wieder nieder. – Da fällt mein Blick auf ein großes Gewicht, das in einiger Entfernung in der Mitte des Raumes an einem starken Eisendraht hängt. Was mag das sein? Wie ich näherkomme, sehe ich, dass der Draht oben unter dem Firstbalken über eine Rolle läuft und mit seinem anderen Ende durch ein Loch im Fußboden verschwindet. Ob es wohl schwer ist, das Gewicht? Ich hebe es an – nein, es ist nicht .schwer, obwohl es doch aus Eisen zu sein scheint. Ich hebe noch ein wenig, da fährt es fast von selbst in die Höhe, entgleitet meinen Händen, fährt geschwind nach oben, bis unter die Rolle und ich gleichen Augenblick unten in der Kirche ein Krachen, ein Klirren, dass die Balken um mich her erzittern. Und schon kommt das Gewicht wieder herab und schlägt vor mir auf den Boden, mit einem Bums, der eine Wolke von Staub wirbelt. – Stille. – Ich stehe entsetzt, wage nicht, mich zu rühren – was habe ich angerichtet? Da fasst mich die Angst. Ich mache kehrt, laufe zur Tür hin, krieche über die Leiter hinüber zum Turm, klettere durch die Luke, lasse die Leiter liegen, lasse die Tür, wie sie ist, laufe die Wendeltreppe hinab, werfe kaum einen Blick in die Kirche ich sehe, da liegt der große Kronleuchter, in tausend Stücke zerschlagen –, und schon bin ich zur Tür hinaus, über den Kirchhof, durch die Totengasse und zwischen den Gärten hindurch ins Feld entkommen. Niemand ist in der Kirche gewesen, niemand hat mich gesehen. Und auf Umwegen und mit klopfendem Herzen komme ich nach Hause.

In der Schule, die Tage darauf, folgt Verhör auf Verhör, ohne Ergebnis. Jedermann redet von dem Vorfall, man hat oben am Turm die Leiter gefunden, aber niemand weiß, wie sie dort hinkommt, niemand weiß, wem sie gehört, denn Schusterbernhard schweigt, um seinen Sohn August nicht in Verdacht zu bringen, und ich – ich schweige auch. Das ganze Geschehen bleibt in tiefstes Dunkel gehüllt; die Tage, die Wochen und schließlich die Jahre vergehen, die Sonne bringt‘s nicht an den Tag, nein, sie tut‘s nicht, die Sonne, und schließlich, da niemand mehr fragt, ist alles vergessen. Dir aber, weil du nicht geforscht hast, habe ich nun alles erzählt, und wenn du meinst, ich hätte noch Strafe verdient, so magst du hingehen und mich verraten.