Wandern an der Ahr

Vor mehr als 150 Jahren entdeckte man den Charme der Ahrtallandschaft

Dr. Bruno P. Kremer

Vor der Verfügbarkeit von zuverlässigem öffentlichem Personennahverkehr oder gar einem eigenen Fahrzeug war die übliche Fortbewegung von Ort zu Ort auf den eigenen Füßen ein durchaus mühsames Unterfangen – zumal in der Mittelgebirgsregion mit ihrem eventuell stärker belebten Relief aus Kuppen und Talzügen. Der tägliche und selbst der jahreszeitliche Aktionsradius der meisten Menschen blieb daher überschaubar und beschränkte sich auf die notwendigsten Wege aus unmittelbarem Anlass, wenn etwa in irgendeinem Nachbarort ein notwendiger Besuch abzustatten oder eine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen war. Noch vor drei oder wenig mehr Generationen hatten die weitaus meisten Menschen wegen dieser natürlichen Ortsgebundenheit eine aus der Perspektive der heutigen Hypermobilen kaum mehr nachvollziehbare, äußerst lückenhafte Kenntnis von Land und Landschaft jenseits des täglichen Horizontes. Offenbar verspürte man weithin auch gar keinen Antrieb, sich eine andere Gegend als diejenige zu erobern, die unmittelbar der eigenen Lebensbewältigung diente. Erst mit dem Zeitalter der Aufklärung setzte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumindest bei den etwas wohlhabenderen und gebildeteren Kreisen die weitgehend zweckfreie Bewegung über Land ein, die ausdrücklich der eigenen Erkundung und Eroberung diente. Sie fiel – gewiss nicht weiter verwunderlich – in eine Phase, in der man die Landschaft und ihren spezifischen Charme überhaupt erst in ihrem Eigenwert entdeckte und schätzen lernte. Ungefähr zeitgleich und von dieser neuen Umfeldwahrnehmung sicher beflügelt setzte beim Bildungsbürgertum eine beachtliche Welle der Naturbegeisterung ein, die man heute aus soziologischer Sicht sogar als eine Art emanzipatorischen Akt versteht und die bald schon europäische Dimensionen annahm: Immerhin brach im Jahre 1801 der Leipziger Johann Gottfried Seume zu seiner später so berühmt gewordenen neunmonatigen Wanderung nach Sizilien auf, die jahrzehntelang vielfachen Signalcharakter hatte. Nach der Aufklärung, mit der sich das Bürgertum auch in seinem eigenen Naturerleben vom Adel löste, verstärkte die Romantik mit ihrer besonderen Sichtweise die Begegnung mit Natur und Landschaft und eröffnete weitere Aktionsfelder, denn das Freizeitverhalten spielte sich damals fast ausschließlich im engen Umkreis von Haus und Hof ab.

Von den Höhen wie nahe bei Burg Are entdeckt man die Ahr meist nur ausschnitthaft.

Wandern mit seinen neuartigen, zuvor so nicht wahrgenommenen Erlebnisqualitäten erfasste nun nachhaltig weiteste Bevölkerungskreise. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Bewegung sogar regelrecht institutionalisiert: Nachdem 1864 mit dem badischen Schwarzwaldverein der erste deutsche Mittelgebirgswanderverein ins Leben gerufen worden war, folgten schon bald zahlreiche weitere Vereinsgründungen. Auf Initiative des Trierer Gymnasiallehrers Adolf Dronke gründete man 1884 in Bad Bertrich den Eifelverein, einem von heute nahezu 60 Gebirgs- und Wandervereinen, der auch im Kreisgebiet mit Ortsgruppen in Adenau, Ahrweiler, Altenahr, Kreuzberg, Bad Neuenahr, Sinzig, Bad Breisig, Brohltal, Altenahr und Kreuzberg vertreten ist.

Auch die Entwicklung der so genannten Jugendbewegung ist auf diesem Hintergrund zu sehen. In Form des 1901 in Berlin gegründeten und aus heutiger Sicht recht mutig antiwilhelminisch agierenden Vereins Wandervogel e.V. nahm auch sie erstmals konkretere Organisationsstrukturen an. Das soziokulturelle Umfeld und die Motivationsstruktur dieser Vereine und Vereinigungen hat sich bis heute nicht grundsätzlich gewandelt, auch wenn man im modernen Sprachgebrauch weniger vom Wandern und eher von Trekking oder Hiking spricht. Seit 1998 erforscht eine Arbeitsgruppe an der Universität Marburg diese Entwicklung vor allem unter natursoziologischen und sportwissenschaftlichen Aspekten.

Ein Nebental im Mittelpunkt

Das Rheintal und davon insbesondere der canyonartig eingetiefte Mittelgebirgsabschnitt zwischen Bingen und Bonn gilt seit mehr als 200 Jahren als eine der klassischen Reiserouten Europas und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten geradezu zum Mythos (vgl. Cepl-Kaufmann und Johanning 2003). Vor allem in Malerei und Literatur hat diese Region einen europaweit einzigartig breiten und auch erstaunlich facettenreichen Niederschlag gefunden. Die landschaftlich sicher nicht weniger attraktiven, aber noch unerschlossenen Nebentäler wurden als Wander- oder gar Reiseziele dagegen erst deutlich später entdeckt, obwohl schon eine der ersten Ausgaben der Rheinreise-Handbücher des Koblenzer Buchhändlers Karl Baedeker auch die Randregionen des Talzugs berücksichtigte und ausdrücklich zur eigenen Erkundung empfahl. Dennoch blieb bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auch das Ahrtal in der übrigen Region relativ unbekannt. Die ersten Impulse, sich mit dieser zweifellos erlebniswerten und besonders reizvollen Mittelgebirgsregion aktiv auseinanderzusetzen, kamen – wie Josef Ruland in seinen „Streifzügen im Ahrtal“ (1983) zu Recht betont – nicht aus dem Tal selbst, sondern gingen vor allem von der nahen, im Oktober 1818 gegründeten Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn aus. Diese für unsere Region bezeichnende Entwicklung einer aktiven Auseinandersetzung mit der rheinischen Landschaft ist erstaunlicherweise sehr eng mit den politischen Unruhen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verknüpft.

Eine der Leitgestalten war der zur Bonner Gründungsprofessorenschaft gehörende, von der Insel Rügen stammende und damals schon als kämpferisch-patriotischer Gelehrter bekannte Ernst Moritz Arndt (1769-1860), der in der geschichtlichen Rückbetrachtung ebenso als wortgewaltiger, glühender Nationalist mit zeitweilig geradezu chauvinistischen Zügen wie auch als fortschrittlicher Verfechter von Menschenwürde und Menschenrecht sowie einer geeinten Republik gilt. Schon in den Jahren 1798-99 bereiste er unter anderem auch das Rheinland und bekannte in seinen Erinnerungen geradezu schwärmerisch seine spontane Vorliebe gerade für das Bonner Umland, ehe er 1818 auf Vermittlung des Freiherrn vom Stein als Professor für Neuere Geschichte an die im Rheinland zunächst argwöhnisch betrachtete, weil preußisch-protestantisch dominierte Universität berufen wurde. So ist leicht nachzuvollziehen, dass er diese Aufgabe außerordentlich bereitwillig übernahm und sich bereits 1819 direkt am Rhein ein prächtiges Wohnhaus inmitten von Rebgärten erbauen ließ. Heute ist es als Ernst-Moritz-Arndt-Haus eines der viel besuchten Museen der Stadt Bonn.

Der Basaltschlot Kuckley bei Laach war schon Gottfried Kinkel als solcher bekannt.

Bereits 1806 hatte sich der äußerst streitbare und wortgewaltige Arndt im ersten Band seines Monumentalwerkes „Geist der Zeit“ mit der damals noch französischen Obrigkeit angelegt und musste deswegen bis nach Moskau fliehen. Mit den politischen Verhältnissen vermochte er sich auch mehr als ein Jahrzehnt später noch nicht abzufinden. Im 1818 erschienenen vierten Band seines Werkes geißelte er nunmehr mit kräftigen Worten die nach dem Wiener Kongress (1815) einsetzende Restauration, was nun den unterdessen am Hebel sitzenden Preußen äußerst heftig missfiel. Arndt wurde eines der ersten prominenteren Opfer der so genannten Demagogenverfolgung. Nach nicht einmal zwei Jahren Lehrtätigkeit an der neuen Universität Bonn untersagte man ihm 1820 jede weitere Ausübung seines Professorenamtes und belegte ihn zudem mit einem Publikationsverbot. Für die nächsten rund 20 Jahre hatte er daher – allerdings bei vollem Weiterbezug seines Gehaltes und Wohnrecht in der gerade erbauten Villa am Rhein – nun ausreichend Zeit und praktischerweise auch die nötigen Mittel, sich in der Umgebung von Bonn gründlich umzusehen. Er durchwanderte häufig und ausgiebig das Rheintal und die angrenzende Mittelgebirgslandschaft, verfasste darüber Notizen und Berichte, sammelte die Niederschriften seiner zahlreichen Wander- und Reiseerfahrungen zunächst im heimischen Aktenschrank und gab sie erst nach seiner Rehabilitierung (1840) im Verlag seines Freundes Eduard Weber 1844 in Bonn als Buch unter dem Titel „Wanderungen aus und um Godesberg“ heraus. Davon erschien 1978 in Köln ein leicht gekürzter Nachdruck mit dem modifizierten Titel „Wanderungen rund um Bonn ins rheinische Land“.

Der dritte Teil dieser aus regionalwissenschaftlicher Sicht unbedingt lesenswerten Schilderungen behandelt „Das Ahrtal und seine Umgebungen“ und fasst mehrere geradezu enthusiastisch geschriebene Erfahrungsberichte von Arndts Wanderungen an der Ahr zusammen, nach seinen eigenen Worten „ohne Bedenken der romantischste Fluss von allen, welche ihre Wasser in den Rhein gießen“. Die erstmals wohl um 1831 zusammenhängend niedergeschriebene Routenschilderung zur Ahr würde man heute als Rundkurs bezeichnen: Arndt beschreibt sie nämlich als mehrtägige Fußwanderung von (Bad) Godesberg aus am Rande der Grafschaft entlang nach Meckenheim, Rheinbach und Münstereifel (erste Tagesetappe!), dann weiter über Blankenheim, Aremberg, Insul, Dümpelfeld, Kreuzberg, Altenahr bis Ahrweiler und vorbei an der Landskron zurück nach Godesberg.

Ein Geotop ersten Ranges: Umlaufberg Etzhardt bei Mayschoß

Damals gab man die Entfernungen zwischen den Orten üblicherweise noch in Wegstunden und die Höhen in Rheinischen Fuß (= 31,385 cm) an. Seine hinreißend romantische Darstellung bietet überaus freundliche Schilderungen der jeweils besuchten Orte, verweilt hier und da ausführlicher bei wichtigen Begebenheiten aus ihrer Historie, bringt aber auch begeisterte Beschreibungen der durchwanderten Landschaft. Vor allem der Engtalabschnitt mit seinen steil aufragenden Felspartien hat ihn offenbar tief beeindruckt: „Von Kreuzberg bis Ahrweiler [...] ist das Phantastische, Seltsame und Wundervolle dieses Flusses, welches sich nicht weiter beschreiben lässt und weswegen er, selbst Donau und Rhein nicht ausgenommen, durch die Windungen, Verschlingungen und Fuchsgänge seines Laufes und durch die seltsamen und überraschenden Bildungen seiner Ufer in Deutschland ein ganz einziger Strom ist und wogegen zum Beispiel die wundersamen Gebilde, die man auch zu Sanspareil in Franken und zu Adersbach in Böhmen mit Erstaunen sieht, nur kleinliche Spielereien der Natur dünken“. Dabei ist zu bedenken, dass es zur Zeit der ersten Arndt’schen Wanderungen, denen diese Beschreibung zu Grunde liegt, eine durchlaufende Ahrtalstraße noch gar nicht gab. Eine Ahr(tal)wanderung musste also stellenweise über die Höhen führen – erst kurz vor 1840 legte man in Altenahr den heute erweiterten Straßentunnel an, der einen besonders engen Mäanderhals der Ahr durchsticht. Einen durchgängigen Ahrufer-Wanderweg gibt es erst seit 1931.

Geschichte und Geschichten

Die begeisterten und mitreißenden Schilderungen der landschaftlichen Schönheit und Besonderheiten, aber auch die Berichte von etlichen persönlichen Begegnungen, lesen sich heute wie Bildbeschreibungen: Sie entwerfen in der ihnen eigenen, zeitgebunden leicht bombastischen Sprache komplexe Szenarien, aber sie erklären die Landschaft in ihren Formgefügen und Ausstattungsmerkmalen nicht. Dieser eher analytisch-systematische Zugang, der fast alle heutigen Landschaftsdarstellungen wie selbstverständlich auszeichnet, war zu Arndts Zeit noch völlig unüblich, weil noch nicht entwickelt. Die durchwanderte Region wird eher als historischer Raum und ansatzweise als Denkmallandschaft gesehen. So bildet also die komplexe und fallweise auch recht packend nacherzählte Territorialgeschichte des Ahrtals die hauptsächlichen Themenstränge in Arndts Reise- und Wanderbuch. Diese überwiegend auf die durchaus verworrene Regionalhistorie gerichteten Blickachsen bestimmen auch eine zweite bedeutende, der Ahr als Reise- und Wanderland gewidmete Gebietsmonographie des 19. Jahrhunderts – die erstmals 1846 in Bonn erschienene und 1937 in leicht gekürzter Fassung noch einmal verlegte Abhandlung „Die Ahr. Geschichte, Landschaft und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende“ von Gottfried Kinkel (18151882). Ihr aus einem evangelischen Pfarrhaus in Bonn-Oberkassel stammender Autor war 1836-49 Dozent für evangelische Theologie und Kirchengeschichte an der Universität Bonn und damit nicht nur Zeitgenosse, sondern sogar direkter Kollege von Ernst Moritz Arndt, der ab 1840 wieder lehren durfte. Als Kinkels Ahrbuch erschien, waren die politischen Umstände jedoch bereits deutlich unfreundlicher als in den Jahren zuvor. Der politisch engagierte, dabei ziemlich hitzköpfige und äußerst beredte Gottfried Kinkel, den man 1848 als rheinischen Abgeordneten in die Zweite preußische Kammer gewählt hatte, und sein Student Carl Schurz aus Liblar (heute Erftstadt) beteiligten sich 1849 an den bewaffneten badisch-pfälzischen Aufständen.

 

Zum Wandererlebnis Ahrtal gehören auch Waldwege: Niederwald bei der so genannten Akropolis.

 

Die Felsflanke an der Bunten Kuh bei Walporzheim wird in allen Ahrtalwanderfühern seit 1844 erwähnt.

Als die Preußen durch die Einnahme der Festung Rastatt am 23. Juli 1849 die Revolte niederschlugen, konnte der gerade 20-jährige Schurz einer Verhaftung entkommen, während der arrestierte Hochschullehrer und Landtagsabgeordnete Kinkel eine Verurteilung zu lebenslanger Festungshaft in Spandau erhielt, wo man ihn mit dem Aufspulen von Wolle beschäftigte. Carl Schurz, im Februar 1850 von Kinkels Frau Johanna brieflich alarmiert, kam im Sommer 1850 mit gefälschten Papieren aus dem Exil zurück und hat ihn nach längerer Vorbereitung in der Nacht vom 6./7. November 1850 durch Bestechung eines Aufsehers befreit. Kinkel floh nach London, wo man auch anderen Revolutionären wie Karl Marx oder Friedrich Engels bereitwillig politisches Asyl gewährte. Er lebte dort zunächst als Journalist, lehrte dann ab 1853 Kirchengeschichte und war ab 1866 als Professor für Kunstgeschichte in Zürich tätig. Carl Schurz ging indessen nach Amerika, wurde unter anderem als Berater von Abraham Lincoln ein äußerst einflussreicher Politiker und war 187781 sogar Innenminister der USA.

Gottfried Kinkels in den Jahren vor der 1848er Revolution anlässlich vieler eigener Wanderungen rechts und links der Ahr vor Ort recherchiertes Ahrbuch wurde seinerzeit sehr berühmt, einmal wegen des Aufsehen erregenden politischen Schicksals seines Autors (1849 erschien bezeichnenderweise eine zweite Auflage, die dem Reprint von 1937 zu Grunde liegt), andererseits aber auch wegen der darin für die Zeit ungewohnt liberalen Zwischentöne bei der Schilderung historischer Kontexte. Die genauere Motivation Kinkels, sich intensiver mit dem Ahrtal zu befassen, bleibt allerdings weithin unklar, denn eine klare politische Botschaft enthält seine Ahrtaldarstellung nun auch wieder nicht. Im Gegensatz zu Ernst Moritz Arndt, der praktisch das gesamte Bonner Umland erwanderte, hat Gottfried Kinkel sonst nur Gedichte und oft nachgedruckte Erzählungen aus dem Rheinland, jedoch keine weiteren regionalkundlichen Abhandlungen veröffentlicht. Möglicherweise erfuhr er die Anregung zum genaueren Blick in das Ahrtal aus den monatlichen Treffen des von ihm 1840 mitbegründeten Maikäfer-Bundes. Zu diesem in Bonn seinerzeit bedeutenden literarischen Zirkel gehörte unter anderem auch Karl Simrock, und zumindest aus dessen Briefwechsel sind einige Hinweise auf die auch damals schon so empfundene landschaftliche Schönheit des Ahrtals bekannt.

In seinem ersten, mit „Geographische Übersicht“ überschriebenen Kapitel bietet Kinkels Ahrbuch eine aufschlussreiche, aber keineswegs romantisch verklärte oder gar schwärmerische, sondern eher sachliche Schilderung von Topographie und Landnutzung, so wie man sie damals sah. So liest man beispielsweise vielfache Hinweise auf die ausgedehnten und nach der ertragsarmen Nutzung meist verheideten Ackerfluren, die Jahrzehnte später zu den bevorzugten Motiven von Malern und Zeichnern der berühmten Düsseldorfer Malerschule, darunter v. a. der bekannte Eifelmaler Fritz von Wille, gehörten. Kulturlandschaftsgeschichtlich sind diese Passagen besonders bemerkenswert, weil wir diesen Landschaftselementen aus heutiger ökologischer und wirtschaftsgeschichtlicher Sicht Reliktcharakter und Schutzwürdigkeit zuschreiben und sie nicht mehr wie damals mit den Attributen von Öde oder Monotonie versehen. Mit Interesse liest man auch Kinkels Kommentare und Beobachtungen unter anderem zum Weinbau im Ahrtal: „An Farbe, Glut, Kraft und Geschmack ist Walporzheim und in einigen Lagen Ahrweiler die Krone des Tals; doch auch Altenahr, Dernau und Bodendorf sind vorzügliche Lagen“, schreibt er sachkundig und offenbar auf der Basis intensiver eigener Erfahrungen. Die eigentliche Natur, die nach heutigem Empfinden einen wesentlichen Teil des landschaftlichen Erlebens ausmacht, kommt aber in seiner Talbeschreibung ansonsten kaum vor. Nur in einem Satz erfährt man allerdings ohne nähere Erläuterung oder gar Benennung bestimmter Arten: „Bedeutsam ist im ganzen Tale der Reichtum an wildwachsenden, oft seltenen Pflanzen“. Möglicherweise – ein gezielter Hinweis fehlt im Text – greift Kinkel mit dieser Bemerkung eine der frühesten über das Ahrtal veröffentlichten pflanzengeographischen Studien auf, von denen er eventuell Kenntnis haben konnte: Der aus Neuwied stammende, 1824 Lehrer in Remagen und später in Winningen bzw. Koblenz tätige Lehrer Philipp Wirtgen (1806-1870) hatte 1839 in Bonn beim dort 1834 gegründeten „Botanischen Verein am Mittel- und Niederrhein“ eine erste und recht ausführliche floristische Untersuchung veröffentlicht und darüber zuvor bei einer Jahresversammlung (Bonn 1835) der bis heute bestehenden Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte berichtet. Solche bedeutenderen Wissenschaftlerversammlungen wird man in den Bonner Gelehrtenkreisen gewiss wahrgenommen haben.

Auch Kinkels Angaben zur Fauna der Region sind spärlich, wobei auch hier die Quellen va-ge bleiben: So findet sich nur ein knapper Hinweis auf die Ardennenwölfe, die zur Winterzeit bis zu den Wäldern an der oberen Ahr vordringen, ferner eine Erwähnung des damals schon seltenen Segelfalters an der Landskron (wo er auch heute gelegentlich zu sehen ist; Kinkel verwendet dafür übrigens einen falschen wissenschaftlichen Artnamen, nämlich den des ähnlichen Schwalbenschwanz!) und schließlich auf die im Winter übliche Jagd auf Fischotter an der Lochmühle, die heute im gesamten Gebiet ausgerottet sind. Der eher naturwissenschaftlich (oder wie man damals sagte: naturhistorisch) orientierte Zugang zum wissenden, deutenden und verstehenden Erleben von Land und Landschaft war im 19. Jahrhundert eben noch kaum oder höchstens in ersten Ansätzen entwickelt sowie in den gebildeten Kreisen meist kein Thema.

Geodynamik zum Miterleben: Schotterfächer an der Ahrmündung bei Remagen-Kripp

Auch bei Kinkel ist die durchwanderte, erlebbare und erlebniswerte Landschaft also vor allem ein geschichtlich-politisch geprägter Raum – wohl verständlich, denn ebenso wie Ernst Moritz Arndt war er als Bonner Hochschullehrer in erster Linie Historiker. In diesen überwiegend an Geisteswissenschaften und nationaler Politik interessierten Bonner Kreisen galten die in der Region durchgeführten naturwissenschaftlichen Forschungen offenbar als nachrangig bis kurios und wurden meist überhaupt nicht wahrgenommen. So nimmt denn auch in Kinkels Ahrbuch, das er nach dem Originaltitel immerhin als Orientierungshilfe für Wanderer und Reisende konzipiert hatte, den mit über 100 Buchseiten weitaus größten Teil eine bemerkenswert detaillierte und in Teilen recht kritisch geschriebene „Geschichte des Ahrtals“ von der Römerzeit bis in die Gegenwart (= Entstehungszeit) des Buches ein, die wohl sein Hauptanliegen darstellt. Nur den letzten Buchteil (etwa 30 Seiten) widmet er einer Landschaftsbeschreibung gegen die Flussrichtung von der Mündung bis zur Quelle, die nach den Ahrhauptorten gegliedert ist und erkennbar von den Erfahrungen aus eigenen Wanderungen getragenen wird. Er beginnt mit einem Blick über die Goldene Meile von der Turmgalerie von St. Peter in Sinzig und endet mit der Schilderung der Ahrquelle in Blankenheim. Seine einzelnen Ortsschilderungen sind überwiegend denkmalorientiert oder greifen historische Anekdoten auf und sind schon allein deswegen auch aus heutiger Sicht unbedingt lesenswert. Sie fallen im Vergleich zum romantisch-schwärmerisch und fallweise geradezu impulsiv schreibenden Ernst Moritz Arndt jedoch deutlich distanzierter und eher journalistisch-nachrichtlich aus. Ihre anregende Wirkung auf die damaligen Leser werden sie dennoch nicht verfehlt haben, obwohl keine Berichte darüber bekannt sind, inwieweit sie das Leserpublikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu eigenen Erkundungen vor Ort animiert haben, und sei es auch nur, um staunend vor den zahlreichen, aber noch weithin unbekannten Zeugnissen aus der älteren und jüngeren Regionalgeschichte zu stehen.

Vor allem die Romantiker entdeckten das Wandern erstmals auch für die breite Bevölkerung. Sie legten ihre eigenen Erfahrungen und Beobachtungen in ausführlichen Beschreibungen nieder und richteten damit gleichsam eine neue Literaturgattung ein. Von den frühen Wanderberichten durch das Ahrtal oder über seine talnahen Randhöhen, die man mit den Namen bedeutender Zeitgenossen verknüpfen kann, zieht sich seither eine breite Spur von Wanderführern und Routenbüchern bis hin zur neuesten Auflage des Eifelführers (2006), in dem unter anderem auch der weit über die Region hinaus bekannte und beliebte Rotweinwanderweg angemessen geschildert wird, den man 1972 eingerichtet hat. Die heutige Regional- oder Wanderliteratur sieht und beschreibt Natur und Landschaft verständlicherweise gänzlich anders als vor mehr als 150 Jahren, wo das natürliche Umfeld eher Kulisse und nicht primärer Erlebnisinhalt war.

Literatur: